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Magersucht: mehr als nur dünn sein wollen

Christina Lopinski ist 12 Jahre alt, als sie magersüchtig wird. Sie hat das Gefühl im Gegensatz zu ihren Klassenkameradinnen, die sie als kleine Elfen bezeichnet, zu dick zu sein. Deshalb fasst sie den Entschluss abzunehmen. Sie macht viel Sport und isst immer weniger, bis sie ein niedriges Gewicht erreicht. Doch dann hört sie nicht auf, Gewicht verlieren zu wollen, auch als ihre Mutter sie zu einer Ernährungsberaterin und später zu einer Therapeutin bringt. Sie weigert sich die von der Mutter zubereiteten Mahlzeiten zu verzehren, entsorgt heimlich Essen und sucht nach Tricks, um ihr Gewicht auf der Waage zu maximieren. Ihr Leben dreht sich nur noch ums Essen. Sie zählt jede Kalorie, obwohl sie sich aufgrund des Hungers kaum mehr konzentrieren kann. Sie verliert sämtliche soziale Kontakte verliert und kann sich kaum mehr körperlich betätigen. Christina beschreibt die Krankheit als eine Schlange, die Besitz über sie ergriffen hat. Ihr letzter Ausweg ist die Klinik. Hier gewinnt sie wieder an Gewicht und die Kontrolle über ihr Leben zurück. In dieser Zeit schreibt sie ihre Geschichte auf. Im September diesen Jahres erschien diese als Buch: ,,Durchsichtig: Autobiografie einer Magersucht“. Christina will damit Aufmerksamkeit für die Krankheit schaffen.


Christina, es gibt verschiedene Gründe, wieso Menschen magersüchtig werden. Was hat bei dir den Drang ausgelöst, dein Gewicht zu kontrollieren?


Christina Lopinski: Also es war gar nicht so der Drang mein Gewicht zu kontrollieren, sondern mehr das Gefühl, dass ich mich nie richtig zugehörig gefühlt habe. Ich habe die anderen immer als kleine Elfen wahrgenommen und mich als dicken Trampel, der überhaupt nicht reinpasst. Ich wollte einfach nur so sein wie die anderen. Ich dachte, wenn ich ein bisschen weniger wiege, dann gehöre ich vielleicht dazu. Ich glaube Anorexie ist prinzipiell erst mal eine Emotionsregulationsstörung und eine Aggression gegen sich selbst. Klar fängt es vielleicht damit an, dass man dünn sein will. Aber woher kommt es, wenn man sich nicht selbst so liebt, wie man ist? Es kommt aus einem Hass gegen sich selbst. Dieser Prozess verstärkt sich. Es geht irgendwann gar nicht mehr darum, wie man aussieht, sondern darum, dass man irgendetwas hinterher eifert. Man befindet sich dann in einer perfektionistischen Abwärtsspirale, die sich gegen den eigenen Körper richtet. Magersucht ist eigentlich nur eine Auflösung von sich selbst, die den Körper betrifft.


Welche Rolle spielen dabei Medien, die bei „Germany’s Next Topmodel“ oder auf den Covern von Zeitschriften, extrem dünne Frauen zeigen?


Christina Lopinski: Man bekommt gezeigt, wie man aussehen muss. In der Pubertät hat man automatisch irgendwo mal mehr Fettpolster und man denkt, dass man so nicht aussehen darf. Letztendlich ist Magersucht aber eine Mischung aus äußeren Einflüssen und einem selbst verstärkenden Prozess.


Nun ist eine Diät beziehungsweise Abnehmen nicht gleich eine Magersucht/Anorexie. Ab wann kann man generell sagen, dass Menschen magersüchtig sind?


Christina Lopinski: Das kann man aus biologischer und aus psychischer Sicht sehen. Aus biologischer Sicht heißt es immer, dass man ab einem BMI unter 17,5 anorektisch ist. Psychologisch würde ich das anders sagen, weil es Menschen gibt, die einfach durch ihren Körperbau oder Stoffwechsel dünner sind. Ich glaube psychisch ist man magersüchtig, wenn man keine Kontrolle mehr über den Prozess des Abnehmens hat. Also wenn sich das Leben nur noch ums Essen dreht. Das kann auch bei einem BMI von über 17,5 sein.


Irgendwann hat deine Mutter dich in eine Klinik gebracht. Wie war das für dich? Glaubst du das war der letzte Ausweg?


Christina Lopinski: Ich habe irgendwann zu meiner Mutter gesagt, dass ich in eine Klinik gehen muss, weil ich es alleine nicht mehr schaffe. Sie war dann natürlich sofort einverstanden. Ich habe direkt am nächsten Tag einen Platz bekommen, weil mein Gewicht schon sehr besorgniserregend war. Ich wollte einerseits zunehmen, aber ich konnte andererseits auch nicht. Es war wie als würden zwei Christinas in mir kämpfen. Ich habe gesehen, dass meine Klassenkameraden anfangen auf ihre ersten Partys zu gehen und ich habe da gesessen und geweint, weil ich keinen Schokopudding essen konnte. Dann hab ich gedacht, dass ich das auch alles machen will. Aber es war ein riesengroßer Kampf gegen mich selbst. Wenn man diesen aber nicht führen will, dann kann man die Krankheit nicht besiegen.

Die Kalorien haben sehr lange dein Leben bestimmt. Wie hast du es geschafft, sie aus deinem Kopf zu bekommen?


Christina Lopinski: Ich glaube, das muss man sehr stark wollen. Ich kann mich noch genau erinnern. Meine Psychologin hat immer zu mir gesagt: „Du musst eine bestimmte Gewichtsschwelle überschreiten und dann wird es in deinem Kopf besser“. Ich habe immer gedacht, dass das nicht stimmt und niemals besser werden wird. Aber dann habe ich die Schwelle überschritten und irgendwann wurde es besser. Ich habe gemerkt, dass ich am normalen Leben teilnehmen kann, wenn ich genug esse und mein Körper stark genug ist. Da ist die Schlange immer kleiner geworden. Christina Lopinski heute


Bist du heute gesund bzw. kann man Anorexie überhaupt heilen oder lernt man nur mit ihr umzugehen?


Christina Lopinski: Ich fühle mich gesund, aber es hat lange gedauert. Man denkt immer nach einem Klinikaufenthalt ist man gesund. Aber ich hab z.B. vor kurzem nach Fotos gesucht, auf denen ich zwischen 12 und 16 war. Die existieren nicht, weil ich mich so unwohl gefühlt habe. Ich war das erste Mal in einem Restaurant, als ich 18 Jahre alt war. Ich habe lange nicht nach Hunger, sondern nach Zeit gegessen. Als ich von zuhause ausgezogen bin und plötzlich komplett für mich selbst verantwortlich war, war das schwer. Aber ich mache seit zehn Jahren eine Therapie. Trotzdem fällt es mir manchmal schwer, mich selbst nicht zu kontrollieren. Ich hatte auch jahrelang in meinem Zimmer keinen Spiegel, weil ich mich nicht anschauen konnte. Ich lerne das tatsächlich erst seit paar Jahren: mich so zu sehen, wie ich bin. Das ist eine Langzeitfolge von Anorexie, der sich viele gar nicht bewusst sind.


Deine Mutter hat dich während deiner Anorexie stets dazu motiviert zu essen, auch kalorienreiche Nahrung. Du beschreibst in deinem Buch, dass ihr regelrechte Kämpfe über das Essen geführt habt. Findest du, dass deine Mutter im Nachhinein richtig gehandelt hat bzw. wie können Eltern deiner Meinung nach am besten mit der Krankheit umgehen?


Christina Lopinski: Meine Mutter hat es eigentlich genau richtig gemacht, weil wenn sie angefangen hätte zu sagen, dass sie mir einen Salat macht, dann hätte sie genau meiner Krankheit in die Hände gespielt. Dadurch, dass sie aber immer das gemacht hat, was ich eigentlich nicht wollte, hat sie an mein gesundes Ich, welches ganz tief noch in mir geschlummert hat, appelliert. Ich glaube, sie hätte aber früher strikter sein müssen und mich früher in die Klinik schicken müssen. Eltern warten oft zu lange, weil sie ihren Kindern vertrauen und gar nicht glauben können, dass eine Krankheit so Besitz von einem ergreifen kann.

Was würdest Du Menschen raten, die gerade dabei sind in eine Anorexie zu schlittern?


Christina Lopinski: Auf jeden Fall ehrlich zu sich selbst zu sein. Ich glaube, dass ist bei allen psychischen Erkrankungen und generell überall im Leben sehr wichtig. Man ist sich selbst immer der größte Gegner. Und mit engen Vertrauten darüber zu sprechen und sich nicht dafür zu schämen. Es ist eine weitverbreitete Krankheit, man ist nicht alleine. Außerdem steht jedem Menschen in Deutschland eine Therapie zu.


Glaubst du denn, dass wir in einer Gesellschaft leben, die sich gesund ernährt oder sind viele essgestört, auch wenn sie nicht magersüchtig sind?


Christina Lopinski: Ich glaube tatsächlich, dass wir in einer Gesellschaft leben, die relativ essgestört ist. Auch wenn ich es gut finde, denke ich, dass auch hinter diesem krankhaften sich gesund ernähren und vegan leben, sehr oft auch Essstörungen stecken. Es ist nicht immer gut sich zuckerfrei und kalorienarm zu ernähren. Man hat einfach ein bisschen verlernt auf seinen Körper zu hören und zu essen was einem wirklich gut tut.

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