Rollenbilder sind für niemanden gut. Auch wenn das auf den ersten Blick vielleicht nicht immer offensichtlich ist.
Zu Weihnachten habe ich ein Buch geschenkt bekommen. Es heißt: ,,Sei kein Mann”. Ein provokanter Titel, von dem sich einige bestimmt gleich herausgefordert fühlen. Wie ,,Sei kein Mann”, was soll das heißen? Wieso ist es denn schlecht ein Mann zu sein?
Das erklärt auf 179 Seiten niemand geringeres als JJ Bola, ein Mann. Er kommt ursprünglich aus dem Kongo, ist aber mit seiner Familie in London aufgewachsen. In seinem Buch beschreibt er, warum Männlichkeit für Jungs ein Albtraum ist.
Männlichkeit, ein Albtraum? Wieso das denn? Das habe ich mich zuerst auch gefragt. Schließlich sind Männer doch die Privilegierten in unserem patriarchalischen System. Sie werden weniger sexuell belästigt, Opfer von sexuellen Gewalttaten, auf der Arbeit diskriminiert oder aufgrund ihres Geschlechts unterschätzt, sexualisiert oder sogar getötet. Trotzdem scheint das ,,Mannsein” für sie nicht nur von Vorteil.
Das habe auch ich in meinem Alltag bemerkt. Wenn ich Diskussionen über Feminismus mit Männern führe, kommt irgendwann immer der Punkt, an dem mir Männer erzählen, dass auch für sie das traditionelle Geschlechterbild eine Last ist. Sie könnten beispielsweise nicht das Anziehen, was sie wollen. ,,Kleider fände ich im Sommer auch praktisch”. Und vor allem können sie eins nicht: Gefühle zeigen. Denn laut dem traditionellen Rollenbild müssten sie immer stark bleiben.
Im Januar habe ich eine Umfrage zum männlichen Rollenbild auf meinem Instagram-Account (marieflora_blog) durchgeführt. 88% meiner Follower*innen waren der Auffassung, dass es eine gesellschaftliche Vorstellung vom Mann gibt. Laut ihnen beinhaltet diese, dass der Mann stark, beschützerisch, unemotional, unerschütterbar und unabhängig ist. Zudem sollte er ein Gentleman sein, Respekt und Ehre verkörpern und seiner Familie Schutz bieten, auch finanziell. 87% meiner männlichen Follower glaubten, dass dieses Bild für sie nicht von Vorteil ist. Trotzdem würden sich 32% der Befragten dem Bild anpassen. 75% sagen, dass ihr Umfeld sich auch dementsprechend verhält.
Ergänzend habe ich weitere junge Männer in meinem direkten Umfeld befragt. Jona erzählte mir, dass er zwar von sich selbst nicht erwartet das männliche Rollenbild zu vertreten, aber oft die Befürchtung hat, dass andere dies von ihm verlangen. Einige Männer in seinem Umfeld würden sich an dem traditionellen Rollenbild orientieren. ,,Ich passe mich dann an, da ich als männlich wahrgenommen werden will”.
Männlich kann alles sein - hier ein paar Beispiele
Auch Louis denkt, dass viele Männer, die er kennt, harte Playboys sein wollen. ,,Sie setzen sich Masken auf, verändern sich, weil sie glauben, dass Frauen das besser finden”. Frauen würden starke Männer wollen. Dem stimmt auch Jona zu: ,,Bei Tinder gibt es etliche Frauenprofile, welche explizit nur nach Männern nach dem gesellschaftlichen Ideal, wie großen Männern, suchen”. Auch in meiner Instagram-Umfrage haben 63% der Männer angegeben, dass sie glauben, dass Frauen erwarten, dass sie sich nach dem klassischen Rollenbild verhalten.
Es mag zwar sein, dass einige Frauen sich Männer wünschen, die dem Rollenbild entsprechen, andere bevorzugen aber Männer, die mit den gesellschaftlichen Normen brechen. Aus meinen Erfahrungen kann ich sagen, dass Frauen vor allem eins wollen: einen Mann, der er selbst ist.
Männer, die sich nach einem Rollenbild verhalten, können das aber nicht sein, denn sie spielen eine Rolle. Dadurch entsteht ein innerlicher Konflikt. ,,Die Männer aus meinem Umfeld, die das Rollenbild regelrecht propagieren, sind oft diejenigen, die am meisten darunter leiden”, erzählt Jona. Leiden würden sie, weil sie Emotionen unterdrücken müssten. Gefühle wie zum Beispiel Tränen dürften sie in der Öffentlichkeit nicht zulassen.
Denn als Männer dürften sie keine Schwächen eingestehen, sonst würden sie an Männlichkeit verlieren. Dabei haben Männer natürlich auch Gefühle: sie denken nach, sind traurig, verliebt und weinen. Die Idee, dass Männer stärker, logischer und weniger emotional seien, sei laut JJ Bola nicht die Realität, sondern Sozialisierung. Trotzdem teilen Männer ihre Gefühle oft nicht mit anderen, weder mit Frauen noch mit anderen Männern. Sie tragen ihre Gefühle, Wut und Frustration mit sich.
Das kann vor allem in Beziehungen hinderlich sein. Gerade mit dem Partner*in sollte man über sein Innerstes sprechen und sich nicht hinter einer Fassade verstecken. Doch nicht nur für die Kommunikation in einer Beziehung ist das Rollenbild schädlich. JJ Bola schreibt, dass das Unterdrücken von Gefühlen sogar vermehrt zu psychischen Krankheiten führen kann. Laut ihm ist die Mehrheit der Obdachlosen, Drogenabhängigen und der Menschen, die Gewaltverbrechen erleben, männlich. Zudem sei die Suizidrate bei Männern höher als bei Frauen. Männer würden über Probleme weniger sprechen, Ansprechpartner*innen und Helfende würden somit fehlen.
Doch nicht nur an emotionaler Nähe mangelt es Männern, sondern auch an körperlicher, vor allem zum gleichen Geschlecht. JJ Bola schreibt, dass Männer in westlichen Ländern ein Problem mit Nähe hätten. Händchenhalten und Umarmungen würde in Männerfreundschaften ein Tabu sein. Denn das Zeigen von Gefühlen in Bezug auf andere Männer entspreche nicht dem Rollenbild und würde als homosexuell gewertet. In vielen frankophonen und auch anderen Kulturen ist es in Männerfreundschaften hingegen ganz normal, sich an den Händen zu halten oder sich zur Begrüßung auf die Wange zu küssen, erzählt er in seinem Buch.
Vielleicht wird sich das Rollenbild des Mannes in Zukunft ändern. Ein Umdenken findet zumindest langsam statt. Louis sieht das Rollenbild im Wandel: Kindererziehung, Mode und Kosmetik sind jetzt auch Männersache. Jona beobachtet in seinem Umfeld, dass der ein oder andere zwar immer noch ein traditionelles Rollenverständnis hat, sich aber nicht so verhält. Ein kleiner Anfang, findet er.
In Tims Freundeskreis ist das Rollenbild sogar nicht mehr wirklich präsent. ,,Ich kuschel gern mit meinen männlichen Freunden”. Er findet: ,,Wir sollten die Rollenbilder einfach alle mit einem ironischen Augenzwinkern stehen lassen. Das Geschlecht sollte mehr in den Hintergrund rücken”. Aber die Gesellschaft würde es den Männern nicht leicht machen. Denn die bisherigen Strukturen würden für viele von Vorteil erscheinen. Das sieht auch JJ Bola so. Denn im Patriarchat hätten die Männer in der sozialen Hierarchie jemanden unter sich, würden sich dadurch ermächtigt fühlen. Dabei spielt es keine Rolle, wie sehr sie teilweise eigentlich selbst unter dem System leiden: es ist das beste und muss gegen äußere Einflüsse wie den Feminismus verteidigt werden.
Dabei will der Feminismus nicht die Männer unterdrücken und Frauen zu den neuen Weltherrschern machen. Sein Ziel ist die Gleichberechtigung aller Geschlechter, die Auflösung schädlicher Rollenbilder. Das sollten Männer versuchen zu verstehen. Dafür müssen sie anfangen, sich selbst und ihr Verhalten zu reflektieren, lernen sich zu öffnen und Verletzlichkeit zuzulassen. Denn Männer dürfen, wie Frauen, sein, wer sie sind und wer sie wollen. Sie dürfen Schwäche zeigen, sie dürfen unemotional sein, sie dürfen sich die Augenbrauen zupfen und die Fußballschuhe putzen. Männlichkeit hat viele Facetten. Wir müssen sie nur entdecken.
*der Text versteht alle Menschen als Männer* und Frauen* die sich selbst dieser Kategorie zuordnen
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