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Kanada: Zwischen Multikulturalismus und Kolonialismus

Aktualisiert: 28. Okt. 2019

Endlose Weiten, strömende Bäche, freilaufende Bären: so stellen wir uns Kanada vor. Ein Land mit gerade mal 37 Millionen Einwohnern, obwohl bereits eine der zehn Provinzen genauso groß ist wie Deutschland. Jede Menge Platz, Raum zur Entfaltung und für ein gutes Zusammenleben. Ein Land mit vielen verschiedenen Ethnien, liberal gegenüber Migrant*innen und Flüchtlingen. Mit einem Premierminister, der sich für die Gleichberechtigung von allen Ethnien einsetzt. 


Bei all dem Fortschritt darf man aber eins nicht vergessen: Kanada ist ein Land mit einer kolonialen Vergangenheit und ist von dieser geprägt. Zwar gilt hier das Prinzip des Multikulturalismus, welches besagt, dass jeder seine Kultur frei praktizieren kann. Weshalb die sogenannten Ureinwohner*innen, die First Nations, Métis oder Inuit, ihre Bräuche in Reservaten ausleben können. Gleiche Bedingungen gelten für sie allerdings nicht. Abgekapselt von der restlichen Bevölkerung, leben sie auf einem Land, welches mittels des Indian Acts von 1876 von den kanadischen Behörden verteilt wurde.


Hier liegen die Lebensbedingungen der 3000 Communities meist weit unter dem Durchschnitt Kanadas. Das lässt sich auf rassistische, koloniale Gesetze und Verträge zurückführen, die bis heute gelten. Viele wirtschaftliche Unternehmungen sind auf den Reservaten beispielsweise unmöglich. Grundbesitz darf nicht verpfändet, Kredite nicht beantragt werden. Zudem gibt es oft keinen guten Zugang zu fließendem Wasser, denn die nachträgliche Verlegung von Wasserleitungen in allen Reservaten zieht enorme Kosten mit sich.


Die Kenntnisse ihrer Vorfahren, wie man in der Natur lebt, fehlen den Anwohner*innen jedoch meistens. Das ist aber kein Selbstverschulden, sondern in gewisser Weise Absicht. Die Kenntnisse und Kultur der Ureinwohner*innen sollten ausgerottet werden. Dafür wies die Regierung die Kinder der First Nations bis in die 1990er Jahre in Zwangsinternate ein – sogenannte Residential Schools. Auch Misshandlungen, Prügeleien und Demütigungen fanden in diesem Zusammenhang statt. Konsequenz daraus war, dass die Ureinwohner weder die Strategien ihrer Vorfahren, wie man in der Natur lebt, erlernten, noch eine glückliche Kindheit führten. 


Das zieht Folgen mit sich. Das Leben in den jetzigen Reservaten ist von Isolation, Armut und Arbeitslosigkeit geprägt. Nicht umsonst sind die First Nations in Kanada oft in kriminelle Taten verwickelt und Opfer von Gewalt, Alkoholismus, Drogenkonsum oder psychischen Krankheiten. Besonders indigene Frauen schweben in Gefahr. Mehr als 4200 Frauen und Mädchen wurden bisher Opfer von Gewalttaten. In Relation zur Gesamtpopulation werden mehr indigene Frauen vergewaltigt, geschlagen oder getötet als Frauen anderer Ethnien. Auch die Selbstmordrate in den Reservaten ist weitaus höher. Immer mehr junge First Nations sehen keinen Sinn mehr im Leben. Das stellt Kanada vor Probleme. 


Diese zu lösen ist jedoch nicht einfach. Schon Trudeaus Vater, Pierre Trudeau, versuchte 1969 als Premierminister die Reservate aufzulösen und den Indianerstatus abzuschaffen, um Armut und Ungleichheit entgegenzuwirken. Doch das traf auf Widerstand bei den Ureinwohner*innen, die Angst hatten ihren Sonderstatus zu verlieren und gleichzeitig keine Lösung für ihre Probleme zu finden. Daher einigte man sich auf eine Bekämpfung der Missstände mit finanzielle Mitteln. Für jede*n Ureinwohner*in gibt die Regierung in Ottawa 75 Prozent mehr Geld aus als für nichtindigene Kanadier*innen. 


Hängende Kleider im tiefen Rot. Eine Ausstellung soll auf die vermehrte Gewalt an indigenen Frauen in Kanada aufmerksam machen.



Justin Trudeau wollte jedoch auch die Probleme in den Reservaten lösen. Er verbesserte die Wasserversorgung. Zudem entschuldigte er sich als erster Präsident für das Unrecht, dass der kanadische Staat den Ureinwohner*innen antat. Auch eine Studie über die Gewalttaten an indigenen Frauen gab er in Auftrag. Damit galt er lange als Unterstützer des indigenen Volkes. Nach einem Skandal um einen Baukonzern im Zuge dessen die indigene Politikerin Jody Wilson-Raybould, ehemalige Justizministerin und Generalstaatsanwältin, ihr Amt niederlegte, wackelt dieses Image allerdings. Die indigene Bevölkerung fürchtet, dass die Regierung wieder in alte Muster verfällt. Wie es mit der Gleichberechtigung der indigenen Völker in Kanada nun weitergeht, ist daher ungewiss. Fest steht, dass diese aber immer noch nicht hergestellt ist. Das Land versucht seine Vergangenheit zwar langsam zu bewältigen und die indigene Bevölkerung besser zu behandeln, die kolonialen Strukturen aufzulösen wird wahrscheinlich aber noch lange dauern. Auf diese aufmerksam zu machen ist jedoch Pflicht jedes/r einzelnen, nicht nur in Kanada. 


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