top of page

Ein endloses Band - von Freundschaft und Verlust

Vor einem Jahr ist mein Freund Alessandro Dallatorre gestorben. Ganz plötzlich, bei einem Autounfall. Auch wenn Alessandro in Mailand gewohnt hat und ich ihn daher nicht so oft gesehen habe, war und ist er eine wichtige Person in meinem Leben. Er war der erste Freund, den ich im Ausland kennengelernt habe, damals mit 18 Jahren in San Diego, Kalifornien. Ich muss immer lächeln, wenn ich an ihn denke. 


Er war ein Unikat, eine Person, die man nicht vergisst. Das war mir schon von Anfang an bewusst. Dunkelbraune Haare, einen kleinen Schnauzer und eine silberne Kette, in die sein Name und Adresse eingraviert waren, falls er einmal verloren geht. Leicht orientierungslos, aber immer einen witzigen Spruch auf den Lippen, so habe ich Alessandro an meinem ersten Abend in San Diego kennengelernt und mich gleich wohlgefühlt. Obwohl ich noch nie so lang und so weit von Zuhause weg gewesen bin. Die Gespräche und Treffen mit ihm haben mich mit einer Leichtigkeit erfüllt. Er konnte so viel Quatsch erzählen, hat sich selbst ,,Charlie Harper” genannt, wie aus Two and a half men, und hat, so wie man es Italienern im Klischee nachsagt, viel geflirtet.


Da ich aber vergeben war, wurde mir von Anfang an die Rolle seiner weiblichen Ansprechpartnerin zuteil. Er erklärte:  ,,Du bist mehr wie Familie für mich”. Ich lächelte. 



Unser gemeinsamer Song war ,,Ain't nobody loves me better”. Ich weiß auch nicht mehr, wieso es dazu gekommen ist, aber der Song wurde zu unserer Hymne, die wir uns noch Jahre später gegenseitig per Whatsapp zuschickten, wenn einer von uns beiden ihn bei einer Party hörte. 


Mit Alessandro musste ich immerzu lachen. Das muss ich auch heute noch, wenn ich an den Abend denke, an dem er das erste und letzte Mal für mich gekocht hat. Er sagte zu mir, ,,Komm, ich mache uns Pasta”. Ich war natürlich ganz begeistert, schließlich kam Alessandro aus Mailand und die italienische Küche ist bekanntlich die beste. Was ich dann aber serviert bekam, war gar nicht so lecker: steinharte Spaghetti mit einer komischen Wurst und ungewürzter Tomatensoße. Die Enttäuschung war mir ins Gesicht geschrieben. Aber Alessandro grinste so stolz, dass ich ihm das "Festmahl" einfach nicht übelnehmen konnte. Für mich war er ein Charmeur, ein Witzeerzähler, ein Sonnenschein.



Aber er hatte auch eine ernste Seite. Er hat Politik in Mailand studiert; war an gesellschaftlichen Zusammenhängen interessiert.


Das erfuhr ich als er mich für ein paar Tage zusammen mit einem Freund in Berlin besuchte, ein Jahr nach unserem San Diego-Aufenthalt. Zu unserem sonst so lustigen Wochenende gehörte auch ein Besuch im KZ Sachsenhausen.


Jeden Morgen hat er mich und meine Familie mit einem deutschen Satz geweckt, den er mithilfe von Google Translator übersetzt hatte. Sein Lieblingswort: Mittelohrentzündung. Das schien ihm viel zu lang zu sein. "Deutsch," sagte er belustigt. Im Italienischen heißt es nur otitis, ganz kurz und prägnant. 


Abends war er hundemüde vom Tag, wollte aber unbedingt noch einen Film sehen, bei dem er jedoch nach den ersten Sätzen einschlief. Meine Mutter und meine Schwester mussten lachen und haben ihn ebenso schnell ins Herz geschlossen, wie ich damals.



Einen Monat später hat er meine Schwester und mich prompt nach Mailand, beziehungsweise Genua eingeladen, in das Haus seiner Familie. Vor der Reise schrieben wir bei Whatsapp. Ich wollte wissen, ob wir Handtücher bräuchten. ,,No worries, I show you paradise”, entgegnete er. Ich antwortete: ,,Ja, aber brauchen wir Handtücher?”.  “Trust me, paradise”, antwortete er. Ich lächelte und ging davon aus, dass wir sie wohl nicht brauchen würden.  


Alessandro oder Ale, wie er von seinen Freund*innen auch genannt wurde, hat gern Menschen eingeladen, Gruppen geschaffen, Freund*innen verbunden. Auch an diesem Wochenende in Genua. Zwar konnten seine Freund*innen kein gutes Englisch sprechen, aber man hat sich verstanden. Ich fand alle sehr sympathisch. Es gibt noch ein Bild von diesem Abend: Alessandro und ich stehen gemeinsam, eng umschlungen, vor einer Mauer mit Blick auf den Hafen in Genua. Wir beide grinsen. Eine laue Sommernacht. 



Am nächsten Tag hat Alessandro uns mit zu seiner Familie nach Mailand genommen. Sie waren mir auf Anhieb sympathisch und wir haben uns trotz der Sprachbarriere gleich wohlgefühlt. Ich konnte sehen, warum er so herzlich war. Ein echter Familienmensch. 


Nach diesem Wochenende habe ich Alessandro lange nicht gesehen. Wir beide waren mit Arbeiten und Studieren beschäftigt. Da wir uns beide schon in unseren Heimatstädten besucht hatten, entstand keine Gelegenheit mehr, sich zu sehen. Er reiste nach Brasilien, ich nach Kanada. Wir blieben in Kontakt, schickten Nachrichten hin und her. 


Im Februar 2020 wollte ich ein Auslandssemester in Bologna, Italien, machen und er hatte schon einen Zug gebucht, um mich zu besuchen. Ich war aufgeregt. Endlich Alessandro wiedersehen und mit ihm auf Italienisch kommunizieren. Das hatte ich schließlich extra gelernt. Aber alles kam anders. Am Tag bevor er mich besuchen kommen wollte, wurde ganz Italien zur roten COVID-Zone erklärt und ich musste nach Hause, sonst hätte ich drei Monate komplett isoliert in meiner Wohnung verbracht. Danach war alles anders. Ich war beschäftigt mit meinem Leben in Berlin und an Reisen war gar nicht mehr zu denken. Corona war noch viel einschneidender für Alessandro als für mich, schließlich wohnte er in einer Region, in der verhältnismäßig viele Menschen zu Tode kamen. 


Im April 2022 sollte ich eigentlich mit meinem Freund nach Marokko in den Urlaub fliegen. Doch wieder kam Corona dazwischen. Diesmal jedoch mit einem positiven Ausgang: nach dem ich mich erholt hatte und wieder negativ war, entschlossen wir uns nach Frankreich und Italien zu fahren. Natürlich schrieb ich gleich Alessandro, ob wir uns sehen. 


Nach einer wirklich langen Zeit war ich aufgeregt, ihn wiederzutreffen. Alessandro war wie immer gut drauf und erzählte über seine erfolgreiche Karriere als Fußballmanager bei Inter Mailand. Er schien zufrieden mit seinem Leben.


Er wolle rauchen gehen, sagte er. ,,Ich nehme jetzt mein Bier mit aus der Bar, kommt”. Mein Freund und ich folgten ihm ganz verwirrt und fragten pflichtbewusst: ,,Werden die sich nicht wundern, wenn wir einfach so rausgehen ohne zu zahlen?” ,,Kein Problem", entgegnete Alessandro ganz locker. Wir kamen uns fast etwas spießig vor. Aber unser Zögern war nicht unbegründet. Die Kellnerin war tatsächlich sehr verwirrt und schimpfte. Mein Freund und ich kicherten. ,,Verstehst du, warum ich Alessandro mag?”, fragte ich. Mein Freund nickte.


Zum Abschied umarmte ich ihn fest. Wir machten noch ein Foto, als Erinnerung. Dass es das letzte Mal sein würde, dass ich Alessandro sehe, das hätte ich nie gedacht. Es kam mir mehr vor wie ein Anfang, als ob wir uns von nun an wieder häufiger sehen würden. Ein paar Monate später schickte er mir bei WhatsApp ein Video mit dem Kommentar: ,,I am in German television”. Tatsächlich war er der Star einer kleinen Reportage über einen Essenslieferservice für Yachten. Charmant und witzig wie immer.



Ende März letzten Jahres war ich mitten in dem Abschlussprojekt meiner Ausbildung. Alles war sehr anstrengend. Jede Sekunde habe ich gearbeitet, die Abende in der Schule verbracht und über meine Aufgaben gegrübelt. Dann, aus heiterem Himmel, bekam ich eine Nachricht auf Instagram. Ich öffnete sie: sie war von Alessandros Schwester. Sie schrieb, dass Alessandro gestorben sei. Völlig entsetzt sah ich damals auf mein Handy. Ist das ein Scherz?Aber wer würde solche Scherze machen? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Ich recherchierte im Internet und fand ein paar italienische Artikel zu Alessandros Tod. Es ist schon ein paar Tage her gewesen. Wieso habe ich davon nicht eher etwas mitbekommen? 


Zu der Trauerfeier konnte ich nicht gehen, weil ich nach meiner Ausbildung zusammen mit meinem Freund drei Monate nach Mittel- und Südamerika gereist bin. Das macht mir noch immer ein schlechtes Gewissen, auch wenn mich Alessandro in dieser Zeit und auch heute noch viel beschäftigt. 


Ich wünschte, ich könnte sagen, ich habe meinen eigenen Weg gefunden, um mit der Trauer umzugehen. Aber das stimmt nicht. Ich verdränge den Schmerz und die Gewissheit, die seit seinem Tod da ist: jeder Tag kann dein letzter sein und vor allem auch der deiner Liebsten.


Alessandro war 26 Jahre alt. Er ist einfach nur Auto gefahren und dann war es vorbei. Ich hätte so gern mitbekommen, wie er sich entwickelt. Er hätte ein langes, gutes Leben so verdient gehabt.


Gleich am ersten Tag, an dem wir in Mittelamerika neue Leute kennenlernten, musste ich an unsere erste Begegnung denken. Im ersten Moment waren wir uns völlig fremd, dann verbringt man jeden Tag zusammen. Jung und wild - man wächst so schnell zusammen, wenn man so weit von Zuhause weg ist. 


Auch beim Surfen dachte ich an unsere gemeinsame Zeit in Kalifornien. Alessandro ist auch gern und gut gesurft. Hier, in Costa Rica, hätte es ihm bestimmt gut gefallen, dachte ich, als ich versuchte ein paar Wellen zu nehmen. Plötzlich packte mich eine größere Welle mit unglaublicher Kraft. Ich wurde herumgewirbelt, wusste nicht mehr wo oben und unten ist. Ich bekam Panik. Nach einer gefühlten Ewigkeit tauchte ich auf, rettete mich auf mein Surfboard. Ich hielt inne und erholte mich. “Komm Marie, die nächste Welle ist deine”, sagte mein Freund nach einer Weile. Aber ich konnte nicht mehr. Ich sah am Surfboard vorbei ins klare, tiefe Meer. Was da wohl ist? Haie, Rochen? Was ist, wenn mich jetzt eine Welle trifft und ich nicht mehr auftauchen kann? 

Ich versuchte durchzuatmen, aber alles zog sich zu. Ich konnte nicht atmen und blieb wie erstarrt sitzen. Panik.


In den darauffolgenden Monaten merkte ich, dass das Thema Tod mich sehr beschäftigt und ich nicht ganz weiß, wie ich damit umgehen soll. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es Alessandros Familie und Freund*innen geht. Er hat so viele Herzen berührt - unter anderem auch meins.


Sein Tod hinterlässt Spuren. Ich habe jetzt Flugangst entwickelt, obwohl ich mit 18 problemlos alleine nach Kalifornien geflogen bin, grusel ich mich nun mit 26 Jahren vor dem Fliegen. Aufgrund des Klimawandels eigentlich keine schlechte Entwicklung, aber ich möchte mich trotzdem nicht von Angst leiten lassen. Schließlich hat mir Alessandro auch gezeigt, wie wichtig es ist, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Vor allem auf Reisen. Das hat er so gern gemacht: Südamerika, Australien, USA. 


Ich begreife langsam, dass ich keine Angst mehr davor haben muss, dass ich den Lauf der Dinge nicht kontrollieren kann. Ich muss das hier und jetzt genießen.


Aus unterschiedlichen Gründen fliege ich im Februar nach Palermo. Eine Bewährungsprobe. Schon der Hinflug kostet mich Energie und zu allem Überfluss heißt der Vermieter unserer Wohnung in Palermo dann natürlich auch noch Alessandro. Natürlich ist er dadurch auch andauernd Thema, weil es Probleme mit dem Airbnb gibt. Doch anders als erwartet, stresst es mich keineswegs, innerlich muss ich schmunzeln; denke jedes Mal an „meinen“ Alessandro.


Als ich allein durch die Straßen Palermos ziehe, kann ich das erste Mal seit seinem Tod durchatmen und ohne Angst an ihn denken, an unsere gemeinsame Zeit. Was sie für mich bedeutet hat. Sie war nicht lang, aber intensiv. Ich spüre eine Dankbarkeit, dass ich ihn überhaupt kennengelernt habe. Es macht mich traurig, dass ich nicht noch mehr Zeit mit ihm verbringen kann. Mindestens einmal die Woche möchte ich ihm schreiben, ihn sehen und umarmen, gemeinsam lachen. Einfach wissen, dass er da ist. Das wird für immer meine Erinnerung an ihn sein. Denn wenn ich daran denke, muss ich zumindest ein bisschen lächeln.



bottom of page