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Protestieren auf europäisch?

„No way, we will pay, no way, we will pay“ tönt es über den Platz vor dem Justizpalast in Brüssel. 15.000 junge, alte, arbeitende und streikende Menschen aus Europa haben genug von Sozialkürzungen und Sparen. Deshalb haben sie sich hier am 12. Dezember versammelt, um zu protestieren – für Investitionen in ihre Zukunft.



Es ist nicht die erste Demonstration, die ich in Brüssel beobachte. Ich habe Anfang des Jahres zwei Monate in der „europäischen Hauptstadt“ gearbeitet und über ein paar Demonstrationen berichtet. Keine davon würde ich aber als eine „klassische europäische Demonstration“ bezeichnen, denn dort wurde hauptsächlich für lokale Themen protestiert, wie beispielsweise sichere Radwege in Belgien. Menschen aus verschiedenen europäischen Ländern waren dort kaum zu finden.


Deshalb habe ich mich während meiner Zeit in Brüssel oft gefragt, ob es europäische Demonstrationen gibt und wenn ja, wie diese aussehen. Schließlich ist es schwierig in Brüssel eine europäische Zivilgesellschaft zu bilden. Nicht jeder Verein oder jede Gruppen aus allen EU-Ländern ist in der europäischen Hauptstadt präsent und nur wenige Bürger*innen würden sich wahrscheinlich extra auf den Weg nach Belgien machen, nur um für einen halben Tag ein Plakat in die Höhe zu halten. Aber wie funktionieren Proteste in der Europäischen Union dann? Wer kontrolliert die politischen Entscheidungen?


Auf den ersten Blick ist diese Demonstration am Justizpalast nicht viel anders als die Proteste, die ich aus Berlin oder anderen Städten in Deutschland kenne. Es gibt farbenfrohe Plakate mit prägnanten Forderungen, Sprechgesänge erklingen und Vertreter*innen der Gewerkschaften halten Reden.


Die heutige Demonstration unterscheidet sich aber insofern von anderen Veranstaltungen, weil sie von europäischen Organisationen, in diesem Fall, dem europäischen Gewerkschaftsbund, organisiert ist. Menschen aus unterschiedlichen europäischen Ländern - Belgien, Frankreich, Italien - protestieren hier gemeinsam. Deshalb werden die Reden natürlich auch nicht nur auf einer Sprache gehalten, sondern die Gewerkschaftler*innen wechseln zwischen Englisch, Französisch, Flämisch und sogar Italienisch hin und her.


Das macht die Reden für mich teilweise etwas unverständlich, da ich nicht alle der Sprachen so gut beherrsche. Dennoch kommt die Botschaft der Demonstrierenden bei mir an: Sie wollen verhindern, dass die europäischen Finanzminister*innen bis Ende des Jahres härtere Sparmaßnahmen beschließen. Diese diskutieren nämlich gerade über eine Reform des seit 2020 ausgesetzten Stabilitäts- und Wachstumspaktes.


Bisher schreiben die Regeln vor, Schulden bei maximal 60 Prozent der Wirtschaftsleistung zu begrenzen und Haushaltsdefizite unter drei Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts zu halten. Diese Regelung wurde aber aufgrund der Corona-Krise und des Kriegs in der Ukraine vorübergehend bis 2024 ausgesetzt. 


Die Europäische Kommission schlägt nun vor Schuldenvorgaben nicht einheitlich, sondern individuell, für jedes Land einzeln, zu regeln. Die europäischen Länder sind sich darüber aber nicht einig. Vor allem der deutsche Bundesfinanzminister Christian Lindner, FDP, drängt darauf, einen einheitlichen und verbindlichen Sparkurs zu beschließen, um die Staatsschulden abzubauen.


Das sehen die europäischen Gewerkschaften kritisch. Ihre Befürchtung: wenn zu viel gespart werde, sei womöglich nicht genug Geld für Investitionen verfügbar, welche aber dringend benötigt werden. „Wir brauchen ein radikales Umdenken und keine von der EU beglaubigte Austerität“, sagt Esther Lynch, Generalsekretärin des europäischen Gewerkschaftsbundes, in ihrer Rede. Mit Austerität meint Lynch eine strenge Sparpolitik der Staaten.


„Stop Austerity“ (Stoppt die Austerität), steht auch auf einer riesigen Tafel vor dem Riesenrad, das den Platz vor dem Brüsseler Justizpalast ziert. Der Demonstrationszug beginnt sich langsam von hier in Richtung Schuman-Viertel zu bewegen, in dem die europäischen Institutionen ihren Sitz haben. Viele belgische Gewerkschaften sind dabei, aber auch europäische Vereinigungen stehen vor Ort für ihre Forderungen ein.


„Das Thema ist wichtig für alle Europäer*innen, deshalb gehen wir auch in die Richtung des EU-Parlaments, um die Parlamentarier*innen darauf aufmerksam zu machen“, erzählt Domestei von der European Trade Union Confederation. Der Gewerkschaftsbund vertritt 93 Organisationen aus verschiedenen europäischen Ländern.


Ein bisschen weiter vorne im Demonstrationszug finde ich ein Plakat mit der Aufschrift „Austerity kills”. Das halten die Mitglieder des European Youth Forum in die Höhe. Sie setzen sich für die Interessen von jungen Menschen in der Europäischen Union ein. „Wir sind sehr besorgt, in welche Richtung die Verhandlungen laufen“, erklärt Thomas Desdouits, zuständig für Fiskalpolitik beim European Youth Forum.



„Wir wissen aus den letzten 10 Jahren, dass Austerität keine guten Auswirkungen auf junge Menschen hat, auf deren Familien und deren Wechsel zwischen Arbeit und Studium“, ergänzt er. Dabei seien junge Menschen die Generation, die den Klimawandel bekämpfen müsse. „Dafür brauchen wir aber öffentliche Investitionen, Geld für grüne Energie, Verkehr oder die Renovierung von Gebäuden“, so Desdouits. Deshalb ist er einer von tausenden Europäer*innen, der heute ein selbstbemaltes Plakat in die Luft hält.


Auch wenn hauptsächlich belgische und europäische Vereine heute hier präsent sind, um zu demonstrieren, bekomme ich trotzdem einen Eindruck wie europäische Proteste aussehen können. Bisher gibt es so große Proteste wie diesen aber selbst in Brüssel nur selten. Das erzählt mir zumindest ein erfahrenerer Kollege. Es besteht also noch viel Potenzial für die europäische Zivilgesellschaft.

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